Versorgungslücken

Der Fachkräftemangel macht sich im Gesundheits- und Sozialwesen immer stärker in Form von Versorgungsproblemen und -lücken bemerkbar. Führte dies bislang lediglich in einzelnen Leistungsbereichen zu Engpässen, berichten nun immer mehr Kolleg*innen von der Schwierigkeit eine bedarfsgerechte Versorgung für ihre Patient*innen und Hilfesuchenden sicherzustellen. Der Fachkräftemangel führe inzwischen unmittelbar zu „längeren Warte- und Schließzeiten, geringeren oder höherschwelligen Zugängen, Unterversorgung oder geringer Nutzbarkeit, Unzuverlässigkeit von Angeboten, stärker schematisierten Formaten, fachlich unangemessener Konfliktbearbeitung sowie fehlenden Möglichkeiten von Partizipation, Innovation und Teilhabe“ (Franz et al 2024: Fachkräftemangel und De-Professionalisierung in der Sozialen Arbeit, 12). 

Fachkräfte der Sozialen Arbeit aus Krankenhäusern, Rehakliniken, Beratungsstellen und weiteren Institutionen warnen eindringlich vor den Folgen der zunehmenden Versorgungslücken für Patient*innen und ihre An- und Zugehörigen aber auch für das Versorgungssystem selbst.

DVSG Befragung 2024 zeigt erhebliche Herausforderungen für die gesundheitsbezogene Soziale Arbeit auf

Um diese Warnungen mit Daten zu untermauern hat die DVSG ihre zweijährliche Befragung 2024 dem Thema Versorgungslücken und -probleme gewidmet. Hier geht es zur Kurzfassung (Poster), zum Ergebnisüberblick (FactSheets) und zum ausführlichen Artikel in der Fachzeitschrift sozialarbeit + gesundheit (Artikel).

Mittlerweile überall! Versorgungsprobleme bestehen insbesondere in der stationären Dauerpflege, der Kurzzeit- und Verhinderungspflege sowie in der ambulanten Psychotherapie. Aber auch darüber hinaus gibt es keinen Leistungsbereich mehr ohne regelhafte Versorgungsprobleme. Ob ambulante Pflege oder ärztliche (Weiter)Versorgung, Medizinische Rehabilitation, Hospiz- und Palliativversorgung, Haushaltshilfen oder die Versorgung mit Heil- und Hilfsmitteln, eine rechtliche Betreuung, Eingliederungshilfen nach SGB IX oder Hilfen für Kinder und Jugendliche nach SGB VIII: Zweidrittel der Befragten bemängeln die fehlende Zahl an Versorgungsangeboten. Diese Situation wird durch bürokratische Hürden und zu späte oder fehlende Kostenzusagen durch Kostenträger noch verschärft.

Besonders schwierig ist die Versorgung von Menschen ohne Angehörige oder tragfähiges soziales Netz (83%), Menschen ohne finanzielle Absicherung (77%) und Hochaltrige (76%). Aber auch für Personen mit Sprach- oder kulturellen Barrieren (67%) sowie Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen (64%) gestaltet sich die Versorgung besonders häufig problematisch. Darüber hinaus weisen die Befragten auf die besonders prekäre Situation von Wohnungslosen, junge Erwachsene im Übergang von der Jugendhilfe in andere Zuständigkeiten sowie multimorbiden Personen und Menschen mit psychischen Begleiterkrankungen hin. 

Kann eine Versorgung nur schwer organisiert oder gar nicht sichergestellt werden, hat dies Folgen sowohl für die zu versorgenden Menschen, als auch für das Versorgungssystem und die in ihm Tätigen. 

  • … für die Patient*innen und Hilfesuchenden: 8 von 10 Befragte beklagen unzumutbar lange Wartezeiten für die Patient*innen. In Zweidrittel der Fälle erfolgt die Versorgung nur noch medizinisch - pflegerisch (anstatt bio-psycho-sozial und lebensweltorientiert). Ebenso häufig führt eine problematische Versorgungssituation zu einem längeren stationären Aufenthalt bzw. muss die notwendige Versorgung durch Angehörigen geleistet werden. Letzteres ist vor dem Hintergrund der von Versorgungssituationen betroffenen Personengruppen besonders relevant: Wenn häufig nur noch die Angehörigenpflege übrigbleibt, bedeutet dies für Personen ohne Angehörige oder tragfähiges soziales Netz, dass die Versorgung nicht mehr gesichert werden kann.
  • … für Fachkräfte: Je schwieriger sich die Versorgung von Patient*innen und Hilfesuchenden gestaltet, desto mehr Aufwand und Komplexität bedeutet dies für die Beratung, Organisation und Koordination von Hilfen. War dies früher ein Einzelfall, erleben 9 von 10 Fachkräften diesen Zustand nun regelhaft und damit als Belastung. Zudem steigt die Zahl der Ratsuchenden. Die Folge sind Arbeitsverdichtung, Zeit- und Kostendruck. Vernetzung und Kooperation werden als Schlüssel zur Lösung des Problems gesehen, jedoch fehlt es hierfür im Arbeitsalltag schlicht an Zeit. Jede*r Zweite sieht sich zunehmend im Konflikt mit den eigenen berufsethischen Ansprüchen und gibt an, dass die eigene Arbeitsmotivation leide.

Mehr als Zweidrittel sehen in Fachkräftemangel und Demografie diejenigen Trends, die künftig die Versorgungsprobleme weiter verschärfen werden. 4 von 10 erkennen im Verlust von Versorgungsstrukturen im ländlichen Raum große Risiken für die künftige Versorgung. Mehr als 3 von 10 blicken diesbezüglich mit Sorge auf die Veränderung sozialer Netzwerke und die Zunahme von Einpersonenhaushalten. Wer kann sich noch kümmern, wenn die sozialen Netzwerke fehlen? Auch in der Ambulantisierung erkennt gut jede*r sechste mehr Risiken als Chancen. 

Deutlich weniger Bedeutung wurde dagegen den Themen Flucht und Migration, Inflation, Extremismus und Fremdenfeindlichkeit, der Digitalisierung, oder dem klimawandelbedingten Ausfall von Versorgungsstrukturen beigemessen.

Folgende Maßnahmen sind in den Augen der Befragten am vielversprechendsten, um die vorhandenen Versorgungsprobleme zu lösen:  

  • bundesweit einheitliche Versorgungsstrukturen und -abläufe im Gesundheits- und Sozialwesen,
  • mehr Fachkräfte der Sozialen Arbeit,
  • multiprofessionelle Zusammenarbeit als Versorgungstandard und
  • eine schnellere Bearbeitung von Anträgen durch die Kostenträger.

Die Digitalisierung wird dagegen nicht als Heilsbringerin gesehen: lediglich 7% der Befragten sehen darin eine bedeutsame Maßnahme für die Bewältigung der aktuellen Probleme. 

An die DVSG richten die Befragten folgende Anliegen: 

  1. Politische Interessensvertretung: Gefordert wird ein stärkeres Einwirken auf Politik und Kostenträger. Konkret wird vorgeschlagen, dass sich die DVSG für Bürokratieabbau, eine flächendeckend sektorenübergreifende, multiprofessionelle Versorgung und die rechtliche Verankerung der Sozialen Arbeit einsetzt. Außerdem werden aktive Gremienarbeit und Advocacy benannt.
  2. Profilierung und Qualifizierung: Die Befragten wünschen sich sowohl professionsspezifische als auch interdisziplinäre Fort-, Weiterbildung und Vernetzung. Die DVSG soll sich zudem für eine Steigerung der Attraktivität des Berufs Soziale Arbeit einsetzen. Vorgeschlagen wurden z.B. die Entwicklung von Strategien zur Nachwuchsgewinnung und Fachkräftesicherung, der Einsatz für eine angemessene Vergütung und bessere Arbeitsbedingungen sowie die Erarbeitung aktueller Personalanhaltszahlen. Nicht zuletzt soll sich der Fachverband um Rollenschärfung und Profilbildung der gesundheitsbezogenen Sozialen Arbeit bemühen. Dazu wurden sich Praxishilfen und fachliche Standards gewünscht.
  3. Aufklärung und Information: Die Sensibilisierung und Aufklärung der Öffentlichkeit ist ein weiteres Kernanliegen der Befragten. Zunehmend scheinen Einrichtungen und Institutionen dafür keine Kapazitäten mehr zu sehen. Vielmehr wird von der DVSG erwartet, dass sie über die Versorgungsrealitäten aufklärt. Gesellschaft und Politik sind für die Mangelsituation zu sensibilisieren. Zudem werden sich patient*innengerechte Informationen zu bestehenden Versorgungsmöglichkeiten zu unterschiedlichen Bedarfslagen gewünscht.

Was nun – was tun?

Versorgungsprobleme und -lücken sind Realität. Es steht zu befürchten, dass sich diese in der kommenden Zeit weiter verschärfen, denn ein Ende des Fachkräftemangels ist nicht in Sicht. Die älterwerdende Gesellschaft befördert nicht nur ein langes Leben, sondern potentiell mehr versorgungsbedürftige, multimorbide, hochaltrige und alleinstehende Personen – genau die Zielgruppen also, für die bereits heute die größten Versorgungsprobleme bestehen. Gleichzeitig nimmt der Anteil der arbeitenden Bevölkerung und damit auch die Zahl der zur Verfügung stehenden Fachkräfte ab. Im Zusammenspiel wird die Demografie den Fachkräftemangel und damit das Auftreten von Versorgungsproblemen nicht nur verstärken, sondern noch beschleunigen. 

Es gilt daher, das Handlungsfeld attraktiv zu halten, durch faire Arbeitsbedingungen, angemessene Bezahlung und eine gute Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Zudem scheinen präventive Ansätze zur Förderung sozialer Netzwerke und sorgender Gemeinschaften notwendiger denn je (vgl. Schulz-Nieswandt 2020: Pflegepolitik gesellschaftspolitisch radikal neu denken). Solche sozialen Netze müssen vorausschauend aufgebaut und partizipativ gestaltet werden, damit sie tragfähig sind. Nur gemeinsam können wir die komplexer werdenden Versorgungsprobleme bewältigen. 

Es ist höchste Zeit zu Handeln.